Der Begriff «Nahtoderfahrung»

In der Geschichte, in der Literatur und in heiligen Schriften finden sich schon seit einigen Jahrhunderten und Jahrtausenden Berichte, die Nahtoderfahrungen oder ähnliche Erlebnisse beschreiben. Das Phänomen scheint nicht neu, allerdings wird es erst seit einigen Jahrzehnten vermehrt wissenschaftlich aufgegriffen. Der Begriff «Nahtoderfahrung» ist entsprechend auch neu, wobei es keine fest gesetzte Definition zu geben scheint. Man kann aber trotzdem ein ungefähres Raster erstellen, welches das Phänomen umschreibt.

Ein Nahtoderlebnis kann zum Zeitpunkt einer äusserst lebensbedrohlichen Situation auftreten. Häufig sind Komplikationen bei einer Operation der Hintergrund, grosser Blutverlust, wo dann die Betroffenen für einige Zeit klinisch tot sind, dann aber wieder ins Leben «zurückgebracht» werden. Diese Situation muss aber nicht automatisch zu einem Nahtoderlebnis führen. Pim van Lommel, ein niederländischer Arzt und Wissenschaftler, der sich intensiv mit diesem Thema beschäftigte, hat beobachtet, dass lediglich ein fünftel der Menschen, die in eine solche Situation geraten, in der Folge auch von einem Nahtoderlebnis berichten. Auch in Internetforen haben Menschen geäussert, die zwar in eine äusserst kritische, lebensbedrohliche Situation kamen, klinisch tot waren, dann wieder ins Leben zurück geholt wurden, sich jedoch aber nicht an ein Nahtoderlebnis erinnern konnten.

Kommt es aber zu einem Nahtoderlebis wird dieses in der Regel so beschrieben, dass besonders eindrückliche Momente im Zentrum stehen. Zum Beispiel begegnet man Verstorbenen oder man sieht, wie man aus dem eigenen Körper heraustritt, an die Decke schwebt, man kann helle Lichter sehen, Musik hören, Farben wahrnehmen, Stimmen vernehmen oder Visionen von vergangenen oder zukünftigen Ereignissen haben. Eine Nahtoderfahrung muss aber nicht einem fest gesetzten Muster folgen, das Erlebnis bleibt individuell und macht offenkundig vor allem den intensiven Charakter des Erlebnisses aus.

Eine Studie über Nahtoderfahrungen – ein Zufall

Prof. Albert Heim

Der Geologe Albert Heim hielt im Jahre 1892 im Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs seine Nahtoderfahrung in Form von „Notizen über den Tod durch Absturz“ fest. Darin schildert er sein eigenes Nahtoderlebnis, das er bei einem Absturz gemacht hatte. Er beschreibt darin, wie sein bisheriges Leben an ihm vorbeizog und wie positiv seine Emotionen dabei waren. Obwohl die Situation lebensbedrohlich war, sei das Erlebnis nicht mit einer Todesangst verbunden gewesen – im Gegenteil, er verspürte einen unbeschreiblichen Frieden und eine angenehme Ruhe. Von diesem Erlebnis angetrieben befragte er weitere Alpinisten, die sich in ähnlichen Situationen befanden, und veröffentlichte seine „Studie“, die 30 Nahtoderfahrungen beschreiben.

Dies war gleichsam das Fundament für die Erforschung der Nahtoderfahrung in den Sechziger und Siebziger Jahren, als die beiden Psychiater Roy Kletti und Russell Noyes Heims Berichte ins Englische übersetzten und in den vereinigten Staaten veröffentlichten. Das war der massgebliche Impuls für die sogenannten „Near-Death-Studies“.

Systematische Erforschung der Nahtoderfahrung

Raymond A. Moody hatte zwar kein Nahtoderlebnis gemacht, wurde aber mit diesem Thema über sein unmittelbares Umfeld konfrontiert und beschloss – ausgehend von den Forschungsbestrebungen von der Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross, eine grösser angelegte Studie zu starten. Er hat daraufhin mit standardisierten Fragebogen Phasen der Nahtoderfahrung erarbeitet. Er kommt damit zu folgenden Katalog an Merkmalen, die eine Nahtoderfahrung ausmachen. Dabei sind nicht alle Elemente erforderlich, zudem ist auch die Reihenfolge nicht immer dieselbe:

Raymond Moody (Quelle: AtlantianMysterySchool)
  1. Die Unbeschreibbarkeit des Erlebnisses (das Ereignis scheint kaum in Worte fassbar zu sein)
  2. Das Hören der Todesnachricht (der Betroffene nimmt wahr, wie Aussenstehende seinen Tod feststellen)
  3. Gefühle von Frieden und Ruhe (trotz der lebensbedrohlichen Situation empfindet der Betroffene ein Gefühl von Zufriedenheit und emotionaler Gelassenheit)
  4. Das Geräusch (der Betroffene nimmt ein nicht selten unangenehmes Geräusch, ein Brummen oder Läuten wahr)
  5. Der dunkle Tunnel (der Sterbende gleitet durch einen dunklen Tunnel oder düsteren Raum)
  6. Das Verlassen des Leibes (der Betroffene tritt aus seinem Körper aus und beobachtet sich selber von oben)
  7. Begegnung mit anderen (der Sterbende begegnet anderen, bereits verstorbenen Menschen oder anderen Personen oder spirituellen Wesen)
  8. Das Lichtwesen (antreffen auf ein äusserst helles oder heller werdendes Licht)
  9. Die Rückschau (filmhaft geraffter Ablauf des bisherigen Lebens)
  10. Die Grenze oder Schranke (der Betroffene tritt an einen gewissen Punkt, an dem er aus verschiedenen Gründen nicht mehr weiter kann oder darf)
  11. Die Umkehr (der Betroffene kehrt wieder zurück in seinen Körper, was häufig widerwillig geschieht)
  12. Mitteilungsversuche (das Ereignis scheint derart intensiv gewesen zu sein, dass ein grosses Bedürfnis besteht, dieses mitzuteilen)
  13. Folgen im Leben (Betroffene beschreiben einen spirituelleren Bezug zu ihrem Leben gewonnen zu haben und einen sinnstiftenden Zweck im Leben finden zu wollen)
  14. Neue Sicht des Todes (In der Regel beschreiben Betroffene, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben, wobei jedoch keine Todessehnsucht entstehen würde)
  15. Bestätigung (Beschreibungen von Ereignissen, die die Sterbenden zum Beispiel währen der Reanimation erlebt haben, können von den Ärzten bestätigt werden)

Kenneth Ring, ein amerikanischer Psychologe, untersuchte ebenfalls das Phänomen der Nahtoderfahrung und baut unmittelbar auf Moodys Erkenntnissen auf und führt diese weiter aus:

  • Er betont dabei insbesondere die Nachhaltigkeit der Erlebnisse: die positive Wahrnehmung sei derart intensiv, dass diese Emotion für den Rest des Lebens anhalten würde.
  • Zudem gäbe es keine Hinweise darauf, dass das Erleben einer Nahtoderfahrung von Geschlecht, Rasse, Ausbildung, Alter oder sozialem Status abhängen würde.
  • Auch die religiöse Ausrichtung des Individuums habe keine Rolle gespielt, wie intensiv oder welche Ausprägung die Erfahrung gemacht habe. Atheisten und religiöse Menschen seien gleichermassen von dieser Erfahrung betroffen.
  • Alle Betroffenen seien auch zur Überzeugung gekommen, mit einer übernatürlichen Macht in Berührung gekommen zu sein und einen Blick ins Jenseits erhascht zu haben.
  • Drogen und Medikamente scheinen keinen ausschlaggebenden Faktor zu spielen, Nahtoderfahrungen zu erzeugen. Die Erfahrung falle tendenziell schwächer aus und werde auch vergessen.
  • Es handle sich dabei nicht um Halluzinationen, da diese – entgegen den Nahtoderfahrungen – weitaus diffuser und unkonkreter seien.
  • Selbst unter grössten Schmerzen sei das Sterben als unaussprechlich schön und angenehm empfunden worden.
  • Die Angst vor dem Tod sei für Betroffene kein Thema mehr; Betroffene würden häufig von einem erhöhten Selbstbewusstsein und einer grösseren Sensibilität anderen Menschen gegenüber berichten. Sie hätten weniger Interesse an materiellen Dingen bekommen und würden sich vermehr spirituell und verlagerten auch entsprechend ihren Lebensmittelpunkt und ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Leben.

Der deutsche Soziologe Hubert Knoblauch hat in seiner auf den deutschsprachigen Raum ausgelegten Untersuchung ein relativ breites Feld der „Todesnähe“ untersucht. Mit Einschränkungen werden von ihm auch Phänomene aufgegriffen, die Ahnungen über mögliche Todesfälle miteinschliessen. Dabei hat er insbesondere untersucht, inwiefern sich kulturelle Aspekte auf die Art von Visionen auswirken können. Dies ist sein grundlegendes Anliegen, das Phänomen der Nahtoderfahrung in einen kulturellen Kontext einzubinden. Er geht insbesondere davon aus, dass Nahtoderfahrungen ein «soziales Konstrukt» sind; es kann also nicht darum gehen, eine NTE aus wissenschaftlicher Sicht auf ihre Wahrheit überprüfen zu wollen. Dies ist aus seiner Perspektive unmöglich.